Volles Haus im Pommerschen Landesmuseum. Mehr als 150 Personen waren am Samstag, dem 1. Februar 2025, in den lichten Bau an der Rakower Straße geströmt, um sich über die Wiederentdeckung, digitale Erschließung und Nutzungsmöglichkeiten des Pommerschen Volksliedarchivs zu informieren.
Die Lieder und Tänze im Pommerschen Volksliedarchiv bilden die bedeutendste Sammlung traditioneller Musik Pommerns. Sie spiegelt humorvoll, spielerisch und manchmal bissig den Alltag, die Sehnsüchte und die Musizierpraxis der Gesellschaft des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Im Jahr 2014 hatte der damalige Leiter des Universitätsarchivs, Dr. Dirk Alvermann, in einem vollgestellten Raum eines Universitätsgebäudes das als verschollen geglaubte Pommersche Volksliedarchiv wiederentdeckt.
In Kooperation mit der Universitätsbibliothek Greifswald und dem Greifswalder Institut für Kirchenmusik und Musikwissenschaft initiierte Dr. Alvermann ein von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördertes Projekt zur virtuellen Zusammenführung, Erschließung und Volltexterkennung des Pommerschen Volksliedarchivs. In mehrjähriger Arbeit wurden nicht nur die 14.000 teilweise handschriftlichen Liedbelege und Texte des Bestandes geordnet, digital transformiert und der Öffentlichkeit zugänglich gemacht, sondern ebenfalls die Notentexte und Melodien online zur Verfügung gestellt.
Die Präsentation des Pommerschen Volksliedarchivs sorgte für Begeisterung: In der informativen und zugleich unterhaltsamen Veranstaltung führte die Leiterin des Universitätsarchivs Greifswald, Dr. Elisabeth Heigl, sachkundig in die Geschichte und die Nutzung des Archivs ein; zugleich präsentierten Studierende des Instituts für Kirchenmusik und Musikwissenschaft ausgewählte Tänze und Lieder aus den Archivbeständen. Musikwissenschaftler PD Dr. Martin Loeser sprach über die kulturgeschichtlichen Hintergründe und zeichnete ein vielschichtiges Bild der Musikkultur in Pommern. Im Blickpunkt standen vor allem mögliche Impulse, die aus der Nutzung des Pommerschen Volksliedarchivs für das kulturelle Leben auf deutscher und polnischer Seite erwachsen können.
Namentlich die Kirchenmusik-Studierenden bereicherten mit ihrer Kreativität die Veranstaltung und zeigten das in die Zukunft weisende Potential des Pommerschen Volksliedarchivs: Sie erstellten aus Liedern der Bestände unter Leitung von Oliver Blank im Rahmen ihres Studiums vielfältige Arrangements und eigene Kompositionen für Gemischten Chor – vom Chorlied in der Art des 19. Jahrhunderts bis hin zu zeitgenössischen Satztechniken des 21. Jahrhunderts. Diese Werke erklangen durch den Kammerchor des Instituts für Kirchenmusik und Musikwissenschaft (Einstudierung: Prof. Frank Dittmer) im Pommerschen Landesmuseum als Uraufführung. Musikalisch mitreißend gestaltete Isabel Troeger mehrere Tänze auf der Violine und animierte damit die eigens aus Szczecin angereiste Gruppe "Krąg" (Kreis) zum Tanz.
Das beträchtliche öffentliche Interesse zeigte sich nicht zuletzt an der Beteiligung zahlreicher zivilgesellschaftlicher Gruppierungen. Neben mit der polnischen Tanzgruppe „Krąg“ (Kreis) (Zespół Pieśni i Tańca Ziemi Szczecińskiej "Krąg") vertreten waren der Tanzverband Mecklenburg-Vorpommern durch Waltraud Zebisch und Dr. Kerstin Kaßner-Kebelmann sowie der Heimatverband Mecklenburg-Vorpommern durch Johanna Bojarra. Ein besonderer Ehrengast war Dr. Cornelia Nenz: Aus dem Nachlass ihrer Mutter Rosemarie Ehm-Schulz, seinerzeit Choreografin am Staatlichen Folklore Ensemble der DDR, stammten zahlreiche Abschriften der im Volksliedarchiv gesammelten Melodien.
Insgesamt bildete die erfolgreiche Präsentation des Pommerschen Volksliedarchivs die Frucht einer bereits seit dem Jahr 2018 andauernden Zusammenarbeit zwischen der Kulturreferentin für Pommern und Ostbrandenburg, Dorota Makrutzki, dem Universitätsarchiv Greifswald und dem Institut für Kirchenmusik und Musikwissenschaft. Damaliger Ausgangspunkt war die Konferenz „Brauchtum in Pommern – grenzübergreifend erhalten und pflegen“. Es folgten eine gemeinsame Erstellung von Video-Clips mit ausgewählten Melodien aus dem Archiv und ein gemeinsames musikwissenschaftliches Seminar mit dem Titel „Von der Karteikarte aufs Festival. Das Pommersche Volksliedarchiv und seine Rezeption im Wandel der Geschichte“.
Zur Geschichte des Pommerschen Volksliedarchivs:
Eine systematische Sammlung von Volksliedern begann in Deutschland 1914 mit der Gründung des Deutschen Volksliedarchivs in Freiburg im Breisgau. Da dort nicht die ganze Sammelarbeit für alle deutschen Regionen geleistet werden konnte, wurden bald regionale Sammelstellen eingerichtet, die dem Deutschen Volksliedarchiv zuarbeiten sollten. Für Pommern übernahm diese Aufgabe seit 1926/1927 das Pommersche Volksliedarchiv als eine eigene Forschungsstelle an der Universität Greifswald. Diese wurde von einem Ausschuss geleitet, dem führende pommersche Volkskundler angehörten – u.a. Alfred Haas und Robert Holsten. In den insgesamt zwölf Jahren der Sammeltätigkeit wuchs der Gesamtbestand von Volksliedern, Melodien, Sprüchen und Versen mit ihren örtlich abweichenden Varianten auf rund 14.000 Schriftstücke aus etwa 450 Orten der Preußischen Provinz Pommern an. Zur geplanten wissenschaftlichen Auswertung kam es jedoch nicht. Zum einen scheiterte das Forschungsprojekt an seinen unbeherrschbaren Dimensionen und zum anderen trugen der ideologische Missbrauch der volkskundlichen Forschung als wissenschaftlicher Disziplin durch den Nationalsozialismus zum Niedergang vieler volkskundlicher Projekte bei. Mit Ausbruch des Zweiten Weltkrieges kam die systematische Sammelarbeit des Pommerschen Volksliedarchivs endgültig zum Erliegen. Seit Ende der 1950er Jahre galt das Archiv als verschollen. Gleichzeitig wurde die Volkskunde als universitäre Disziplin aufgelöst und war die Beschäftigung mit Pommern politisch unerwünscht, sodass das Pommersche Volksliedarchiv ganz in Vergessenheit geraten konnte.
Ein Bericht von Dr. Elisabeth Heigl, PD Dr. Martin Loeser und Dorota Makrutzki